In der Gastronomie gibt es Themen, die seit Jahrzehnten hitzige Diskussionen verursachen, und für die es wohl nie eine akzeptable Lösung geben wird, weil alle von ihrem Standpunkt aus meinen, Recht zu haben. Thema Trinkgeld zum Beispiel. Oder Hahnenwasser-Ausschank in Restaurants. Es mag für einen Gast verständlicherweise kleinlich vorkommen, für sein WC-Geschäft gratis etliche Liter Trinkwasser wegspülen zu können, für dasselbe Trinkwasser aber im selben Restaurant deziliterweise ein paar Franken liegen lassen zu müssen, wenn er es im Glas trinken möchte. Der Wirt bringt als Argument, das Wasser ins Glas abgefüllt und serviert zu haben. Und natürlich muss er es auch wieder abwaschen und gegebenenfalls ersetzen. Löhne müssen bezahlt, Mieten gedeckt, Strom verrechnet und Waren eingekauft werden. Das alles soll den Preis eines Glas Wassers rechtfertigen, der oft in nur geringem Masse niedriger liegt als der eines Glases (teuer eingekauften) Mineralwassers.
Aha – nicht realisierter Gewinn wird also mit einkalkuliert.
Nimmt man einen Gastro-üblichen Verkaufsfaktor und geht vom Einkaufspreis aus, ist der oft verlangte Wasserpreis in der Tat Wucher. Recht hat also der Gast, der sich aufregt. Andererseits meint der Wirt, damit den „entgangenen“ Umsatz zu legitimieren. Aha – nicht realisierter Gewinn wird also mit einkalkuliert. Mag ja ein Stück weit verständlich erscheinen. ABER, und das sage ich hier als Gastronom – Die schwierigste Hürde ist ja bereits geschafft, wenn der Gast im Wirtshaus sitzt und bereit ist, irgend etwas zu konsumieren. Was wäre, wenn der Gast einfach am Haus vorbei geht? Chance vertan.
Gastrokennzahlen (und Banken) suggerieren immer, dass ein Gast – sofern man ihn in diesem Zusammenhang überhaupt so nennen kann – in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenig (Personal-)Aufwand möglichst viel Geld liegen lässt. So gibt es den Pro-Kopf-Stuhlumsatz, den Umsatz pro geöffneter Betriebsstunde, den Umsatz pro Mitarbeiterstunde etc. Da bringt ein Glas kostenloses Wasser natürlich die ganze Statistik und so die gesamte Betriebsrechnung durcheinander.
Welche Marketingaktion könnte mit weniger Mitteln einen grösseren Erfolg verbuchen?
Manch ein Gast versteht die Situation des Wirtes und wäre bereit, für das Trinkwasser einen angemessenen Preis zu bezahlen. Viele haben aus denselben Gründen aber Hemmungen, welches zu bestellen. Was hilft aus diesem Dilemma? Eigentlich nur eins: Der gewagte Schritt nach vorne, nämlich gratis Wasser ausschenken und dies gastfreundlich und ehrlich, das heisst ohne Unterton, dem Gast anbieten. Entgangener Umsatz? Von wegen! Dieser Schritt kann mittel – bis langfristig einen ungeahnten Erfolg herbeirufen. Denn, auch wenn unmittelbar vielleicht zwei- drei Franken Umsatz entgehen, kann das Gratiswasser zur Folge haben, dass der Gast entweder einen Kaffee zum Abschluss nimmt, die teurere Flasche Wein bestellt oder statt einmal, vielleicht zweimal wöchentlich unser Haus besucht. Vielleicht erzählt er es sogar weiter und nimmt noch einen Freund mit. Welche Marketingaktion könnte mit weniger Mitteln einen grösseren Erfolg verbuchen?
Selbstverständlich gehört schon ein kleines Konzept dazu. So kann beispielsweise konsequenterweise zu jedem Mittagessen vor Bestellaufnahme automatisch eine Wasserkaraffe serviert werden, begleitet mit den Worten, dass diese vom Haus offeriert wird, jedoch gerne auch die hausgemachten Säfte bestellt werden dürfen.
Ein Bistro in Winterthur macht es vor. Seit September 2015 serviert das Bistro Alte Kaserne genau nach diesem Modell zu jedem Mittagessen in Bügelflaschen abgefülltes Leitungswasser. Wer die Reaktionen der Gäste erfahren möchte, muss selber als Gast ein frisch gekochtes Vegi-Menu probieren gehen.
Ein Selbstversuch in Frankreich hat mich überzeugt. In unserem Nachbarland ist seit einem Erlass 1967 per Dekret vorgeschrieben, dass Leitungswasser in Restaurants nicht verrechnet werden darf. So erhält man automatisch eine Karaffe Wasser zum Essen. Obwohl wir die Möglichkeit hatten, selber zu kochen, war genau diese „Caraffe“ Schuld, dass der Herd meist unbenutzt blieb und wir uns ausschliesslich auswärts ernährten.
Also Gastronomen, auch in Frankreich ging die Gastronomie nach dem Erlass nicht unter. Habt Mut, dann wird es auch nie zu der in der Schweiz von mancher Seite geforderten gesetzlichen Bestimmung zum Gratis-Wasser kommen.