Eigentlich hätte 1974 das Trinkgeld-Problem allemal gelöst werden sollen, als es gesetzlich abgeschafft wurde. Eineinhalb Generationen später liefert das Thema brennendere und emotionalere Diskussionen ever.
Es gibt heute keine gesetzliche Regelung welche besagen würde, wem wieviel Trinkgeld zustehen würde, nach welchem Schlüssel es aufgeteilt werden soll, und welche Leistungen dafür zu erbringen sind. Eben, weil es seit 1974 gar nicht mehr existiert. Damals wurde aus dem essentiellen Lohnbestandteil, der vom Gast zu erbringen war ein Lohnbestandteil, der vollumfänglich zu Lasten des Arbeitgebers viel. Die Idee: Der Gast hat Anrecht auf eine 100%ige Leistung für den Preis, den er bezahlt. Der Anreiz, für ein Trinkgeld überdurchschnittlich mehr leisten zu müssen, sollte entfallen. Die Verantwortung über eine angemessene Entlöhnung sollte vollumfänglich dem Arbeitgeber übergeben werden. Für den Arbeitnehmer bedeutete dies eine gesicherte regelmässige Einnahme, ohne zusätzlichen Druck – aber auch ohne Leistungsabbau.
…beim persönlichen Vorteil, Geld zu empfangen hört bei manchem das soziale Gewissen auf.
Soweit so gut. Aber wie sich schon manch eine soziale Idee in der Geschichte als nicht praxistauglich erwies, ist auch die Verlagerung der Lohnverantwortung nicht ganz problemlos verlaufen. Denn, einerseits will man als Gast nicht als knausrig erscheinen und tipt froh und munter weiter, andererseits hört beim persönlichen Vorteil, Geld zu empfangen bei manchem das soziale Gewissen auf.
Wem gehören denn nun die 20 Rappen, die der Gast beim Kaffee aufgerundet hat? Der Servicemitarbeiter ist grundsätzlich der Geldempfänger und die Kontaktperson zwischen Betrieb und Gast. Hat er deshalb das alleinige Anrecht auf das Trinkgeld? Hätte der Gast auch aufgerundet, wenn die Tasse vom Spüler nicht sauber abgewaschen gewesen wäre? Wenn die Raumpflegerin nicht für frische Blumen und saubere Fenster gesorgt hätte? Ist der aufmerksame Service und das Lächeln Grund genug für ein Trinkgeld oder darf der Gast dies nicht ohnehin erwarten? Entsprechend müsste der Gast eine Preisreduktion verlangen dürfen für zu langes Warten und ein mürrisches Gesicht – zulasten des Servicemitarbeiters notabene.
Tatsächlich ist es in vielen Betrieben so, dass sich Servicemitarbeitende vehement für ihr „Recht“ auf Trinkgeld einsetzen. Die sozialsten geben vielleicht ab und zu einen kleinen Zustupf in die Küchenkasse. Das wars dann aber schon. Wirte halten sich in der Regel aus der Diskussion raus, man will sich ja nicht in Brennesseln setzen. Ausserdem kann der Servicemitarbeiter seine Macht ausspielen und bei verwehrtem Trinkgeld nur noch für reduzierte Einsatzbereitschaft einstehen, weniger flexibel erscheinen. Warum sollte er sich denn auch die Mühe machen sein Bestes zu geben, wenn er dasselbe verdient wie sein unmotivierter Kollege? Ein leistungsorentierter Lohn könnte vielleicht Abhilfe schaffen. Das heisst, alle haben denselben Grundlohn, je nach Umsatz gibt es einen Leistungslohn dazu. Voilà, wieder ist dem Gast die Grundverantwortung für einen leistungsgerechten Lohn genommen. Der Wirt hat zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: zufriedene Gäste und motivierte Mitarbeiter. Wirklich? Schnell finden die Mitarbeiter raus, welche Stammgäste am meisten konsumieren, welche Stationen am besten besetzt sind. Streitereien sind vorprogrammiert. Einander aushelfen? Fehlanzeige solange der Umsatz über den Kollegen läuft. Als Gast merkt man dies, wenn der zuständige Kellner masslos überfordert ist und sein „arbeitsloser“ Kollege einen partout ignoriert.
Die Perversion des Ganzen ist das in letzter Zeit in Mode geratene Pre-Tipping
Dieses Problem scheint übrigens nur im Gastgewerbe zu existieren. In welchem anderen Dienstleistungsgewerbe wird Trinkgeld zur 100%igen Erbringung der Leistung erwartet? Nun, andererseits ist der Gast selber nicht ganz unschuldig. Er weiss ja, dass das Trinkgeld inbegriffen ist – das muss ja auch in der Speisekarte stehen. Trotzdem geben die meisten einen kleinen oder grosszügigen Zustupf. Einerseits aus (falschem) moralischem Gewissen, andererseits als Zeichen der Zufriedenheit über den Service oder die Küche, oder die Ambiance oder alles zusammen. Womit wir wieder an die Frage gelangen, wem denn das Geld nun zusteht. Die Perversion des Ganzen ist das in letzter Zeit in Mode geratene Pre-Tipping: Der Gast übergibt dem Servicemitarbeiter bereits zu Beginn ein schönes Trinkgeld und erkauft sich dadurch eine bevorzugte Aufmerksamkeit. Mit der Annahme dieses Auswuchses an Arroganz zeigt sich denn auch der Charakter des Beschenkten. Ein ethisch korrekt handelnder Servicemitarbeiter würde das Trinkgeld im Voraus konsequent ablehnen und bemerken, dass er im Namen seines Berufsstolzes alles daran setzt, alle Gäste gleichermassen zuvorkommend zu betreuen und danach einen Zustupf gerne mit allen Beteiligten teilt.
Kürzlich wollte ich einem Strassenverkäufer die Zeitschrift „Surprise“ abkaufen. Statt dem offiziellen Preis von 6 Franken wollte ich etwas mehr geben, wonach der Verkäufer abwedelte und meinte: “Nei nei, die sächs Franke langet vollkomme“.