Früher pflegte man zu sagen: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“ Wobei ich mir als 15-jähriger Kochlehrling nicht genau sicher war, was ich darunter zu verstehen habe. War das etwas Positives oder Negatives? Wer ist mit „Herr“ gemeint? Der Lehrmeister, dann wäre der Spruch zum Schutz des Lehrlings zu interpretieren, sozusagen „Lass Dich nicht unterkriegen, bzw. versklaven“. Oder ist mit dem „Herr“ der Lehrling gemeint? Dann sollte der Spruch wohl bedeuten, dass man sich als Lehrling nicht zu wichtig nehmen soll und Anweisungen des Chefs gefälligst zu befolgen hat, auch wenn man sich nicht immer im Klaren über den Sinn der gestellten Aufgabe ist.
Nun, irgendwann musste ich feststellen, dass an beiden Interpretationen was dran ist, obwohl ich bis heute nicht sicher bin, ob der unbekannte Urheber des Spruchs dies so beabsichtigt hatte. In der Tat war die Kochlehre vor 30 Jahren kein Zuckerschlecken. 5 ½-Tage-Woche, kein Wochenende frei, manchmal noch nach der Schule arbeiten gehen, Pfannen, die wortwörtlich „nachgeschmissen“ wurden, rüder, manchmal ziemlich zynischer Umgangston. Eigentlich ein Wunder, dass niemand meiner damaligen Klasse die Lehre abgebrochen hatte. Man befand sich sozusagen in Mitleidensgenossenschaft. Erst nach Lehrabschluss wechselten die meisten den Beruf. Man nahm den Spruch ernst und biss sich durch. Als Jugendlicher hatte man in der Erwachsenenwelt keine andere Wahl, man kannte ja nichts anderes. Eigentlich hätte der L-GAV den Lehrling und alle anderen Arbeitsnehmenden schützen sollen, aber der war noch in der Geburtsstunde und wurde noch von niemandem so richtig ernst genommen. Kontrollen gab es keine und wenn man den Chef auf Bestimmungen ansprach wurde man ausgelacht und daran erinnert, dass man froh sein solle, eine Lehrstelle zu haben.
Die Lehre hat sich gewandelt. Der Lehrneister ist kein Meister mehr, sondern ein Berufsbildner, eher Coach. Es gibt verschiedene Kontrollinstrumente wie z.B. den Bildungsbericht oder einen Kompetenznachweis, den der Berufsbildner zusammen mit dem Lehrling zu erbringen hat und jeweils im ÜK kontrolliert wird. So wird eine Lernkontrolle gewährleistet. Für Gesetze gibt es entsprechende Stellen, die darauf achten, dass sie eingehalten werden. Und für die Berufsauswahl selber absolviert der Lehr-Interessierte eine sogenannte „Stellwerk“-Prüfung, um verborgene Talente und Eignungen offen zu legen. Diese können dann beispielsweise auf Plattformen wie anforderungsprofile.ch abgeglichen werden. So sollten von vornherein die richtigen Jugendlichen im richtigen Beruf landen – sollte man annehmen. Trotzdem gibt es soviele Lehrabrüche wie noch nie, Tendenz steigend. Das kann ja eigentlich nicht sein?
Wird vielleicht zuviel beraten und kontrolliert? Werden die Erwartungen zu hoch geschraubt? Der Lehrling ist heute zu ungeduldig, erwartet von Beginn weg zuviel. Dass man erst die Basis erlernen muss um leichter an die Kür zu gelangen, ist vielen unverständlich. Bevor die Minestrone zubereitet werden kann, müssen die Schnittarten aus dem FF sitzen. Das macht den Profi aus. Aber dies erfordert Übung – jeden Tag, immer und immer wieder. Also, dranbleiben und durchhalten, denn: Lehrjahre sind keine Herrenjahre.